Yard Sounds und Baile Funk Favela Chic

Kultur

Seit einigen Jahren lässt sich ein Interesse an Sounds aus Städten von Welt beobachten, die unter den Etiketten Shanty House oder Post World Music figurieren. Yard Sounds wie Baile Funk, Desi oder Kwaito regieren gerade auch dort, wo die Tanzböden betoniert sind.

Slums in Caracas, Venezuela.
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Slums in Caracas, Venezuela. Foto: Fabio Pozzebom - ABr (CC BY 3.0 cropped)Demerson Barcelos (CC BY-SA 4.0)Nate Cull (PD)

3. Mai 2009
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Andererseits ist aktuell ein Teil der Diskussionen über Pop vom Thema metropolitaner «Prekarisierung» geprägt. Könnte es da nützlich sein, den Radius zu erweitern, und zu fragen, warum eine Art Favela Chic hier hip geworden ist, und damit zu versuchen, die Aufnahme solcher Sounds als symptomatisch zu verstehen, die beanspruchen, sehr direkt vom Überleben zu handeln?

Anders gesagt: Ich will das Motto «Pop und Überleben» wörtlich nehmen und dabei von den Diskussionen über Prekarisierung weit wegzoomen, was eher quer steht zur Selbstbefragung und Nischenbetonung, die kritische Diskurszusammenhänge über Pop auszeichnen. Das heisst auch, dass die Frage der Subjektivität zunächst zur Seite gelegt und scheinbar Entferntes behandelt wird, nämlich verschiedene Momente des Imperialismus, um zum Schluss den Strang der Subjektivität wieder aufzunehmen.

Post World Music?

Man kann bei Shanty House kaum von einem zusammenhängenden Stil sprechen, sondern eher von einem Set musikalischer Positionen oder einer Schrittfolge stilistischer Schlüsselreize. Also, Orientierung durch Aufzählung: ich meine alles von M.I.A., Santogold, deren Produzent Switch, bis zu DJ Diplo, bei dem das Ganze einen besonders dude-mässigen Ausdruck findet und der wohl deshalb als einer der wichtigsten Botschafter/Übersetzer fungiert (hin zum mittelständisch Verkifften).

Madlibs formschön gesampelte Bollywood-Instrumentals auf seinen zwei Alben «Beatkonducta in India» bilden den Hub eines neuen Interesses an Desi und Banghra, das nach Panjabi MC offenbar etwas abgeflaut war. Reggaeton und Soca sind wohl nur ein kurzer Sommer beschieden gewesen, doch Baile Funk, von dem hier mit DJ Marlboro und Deize Tigrona nur zwei Gallionsfiguren genannt seien, scheint unten um zu bleiben.

Damit kommen wir zu den geschichtlichen Zitaten, mit denen diese verdrahtete Tanzmusik ihre Unterlage legt. Da ist einerseits der jamaikanische Dancehall, immer wieder, doch eine digitale Dancehall der Casio Sounds, der Achtzigerjahre und des Sleng-Teng-Riddim. Eine weitere Grundlage ist Rap, der hier allerdings noch auf der Schwelle zur Elektronik steppt: in der Form von Old School mit synthetischen Congas, Cowbells und Handclaps, die noch kaum von Disco zu unterscheiden sind einerseits, und mit den House-Anleihen von Miami Bass andererseits.

Die Linie von Miami Bass verlängert sich in die Südstaaten mit Crunk, der Vorliebe für 808-Bassdrums zur Begleitung von chopped'n'screwed Codein-Delirien (Hustensirup als neues Leimschnüffeln!). Das lässt den Shanty House anknüpfen an Orte, wo die «Dritte Welt» in der «ersten» siedelt, in Baltimore etwa, wo Club Music genau jene Verbindung aus Old-Schoolismen und Stakkato-Hauereien mit Blaqstarr, Spank Rock oder Rye Rye feiert. Es ist aber auch an die jüngste Welle von Ringtone-Rappern wie Soulja Boy zu denken, die über mobiltelefonisch scheppernde Steeldrum-Beats stolpern, und dabei häufig nicht mehr Halbwertszeit haben als eine Prepaid-Karte.

Damit soll dieser kurze Namecheck-Reigen abgeschlossen werden. Die provisorische und reichlich fahrige Aufzählung zeigt erstens einmal, dass sich hier überhaupt nicht immer von einem konkreten biografischen Hintergrund in den globalen Armutszonen reden lässt. M.I.A. etwa, sicher die wichtigste der gerade aufgezählten KünstlerInnen, ist nicht nur tamilische Migrantin, sondern vor allem Abgängerin des St. Martin College, einer der beiden prestigeträchtigsten Kunsthochschulen Londons (sie hatte ein Stipendium).

Und wahrscheinlich ist es genau diese Verbindung, die M.I.A. so signifikant macht. Die Warnung davor, die KünstlerInnen über einen Kamm zu scheren, lässt sich positiv wenden, wenn deren Äusserungen nicht als authentischer Ausdruck verstanden werden, sondern als ein Register oder ein Set von Positionen. Damit sind nicht irgendwie «widerständige» Inhalte, beispielsweise in den Texten, sondern das Einnehmen einer spezifischen ästhetischen Aussageform gemeint. Und lässt sich dieser Punkt des Unauthentischen nicht verallgemeinern, indem man sagen könnte, dass Post World Music gerade das Synthetische gegen jene Erdigkeit ausspielt, mit der World Music gemeinhin assoziiert wird?

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Bild: Favela in Rio de Janeiro, Brasilien. / Fabio Pozzebom - ABr (CC BY 3.0 cropped)

Damit wird eine bestimmte Verbrämung denunziert, und Militanz und Differenz gegen den Hippie- (oder Roots-)Scheiss von «One World, Peace & Unity» gesetzt. Sogleich wird aber ebenfalls offensichtlich, dass diese Denunziation auch in eine ganz andere ideologische Agenda eingereiht werden kann, nämlich eine, die das Reden vom «Überlebenskampf» als Siegeszug von Klassenspaltung und Entsolidarisierung feiert.

Darum soll es aber erst weiter unten gehen, denn hier müssen zunächst die Formen dieser verzerrten Pop-Weltkarte weiter bestimmt werden, die ich oben zu zeichnen versucht habe: «I put people on the map that have never seen a map», sagt M.I.A. dazu. Eine Musik also, die vage mit «Globalisierung» verbunden wird, und eine Musik, die als roh, hart und schnell gilt.

We give you the nitty gritty, verspricht sie gewissermassen. Will man die kulturellen Passformen dieser Musik weiter kontextualisieren, so fällt unweigerlich der Nullbegriff «Globalisierung».

In der frühen Definition des Wire-Schreibers und Bloggers woebot, dem dieser Text hier viel verdankt, ist Post World Music als eine neue Welle globaler Musik «mercilessly hooligan in it's agenda, synthetic by coice and necessity, often produced in a crucible of urban existence yet more extreme, precarious and violent than that which characterises the temperature of New York, London, Berlin». Damit wird eine verknüpfte gedankliche und imaginäre Szenerie angeschnitten, die ebenfalls viel Hype abbekommen hat, nämlich das Slum in der globalen «Megastadt».

Das Slum als Heterotopie

Auch wenn die «Megastadt» zunächst nicht weniger eine Worthülse als «Globalisierung» bedeutet, ist das Thema bedeutsam, und zwar nicht nur, weil, wie Mike Davis schreibt, wohl bereits heute die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten lebt. Aus ganz verschiedenen politischen Ecken werden Entwicklungsszenarien der «eigenen», metropolitanen Gesellschaftssituation in den Megastädten des Trikont gesucht.

Dass die Zukunft der Stadt gerade nicht mehr nach Modellen aus dem globalen Norden vorgestellt wird (deren Zentrumsfunktion selbst wieder auf den Kolonialreichen und der Einwanderung gegründet hatte), zeigt einen Impact von «Globalisierung» auf das hiesige Denken. So verrät schon die Breite einiges, mit der quer durchs politische Spektrum das Reden über die Slums stattfindet. Fürs Beispiel von Baile Funk liegt der Bezug auf der Hand. Hier findet sich bereits eine mögliche Erzählhaltung zur Megastadt: die skandalisiert-lüsterne. «Hotpants und Kalaschnikows» betitelte die «Süddeutsche Zeitung» im Januar einen Artikel über Baile Funk, der von «Partys voll roher Eleganz und derber Erotik» berichtet. Dieselbe Zeitung hat eine Serie zu den Megastädten des Trikont veröffentlicht, die kürzlich in Buchform erschienen ist. Es sind die Images vom Moloch und Dschungel, die mit einem Akzent aufs faszinierend Chaotische abgeschmeckt werden: Sexismus ist das, was von diesen exotischen Feuilletonreisen ankommt.

Einiges distinguierter, aber nicht weniger kotzig ist das Studienprojekt des Architekten und Urbanisten Rem Koolhaas über Lagos. Hier überfliegt der Forscherblick buchstäblich im Helikopter das Gewusel unter ihm und untersucht die informellen Überlebensstrategien von slum dwellers, um ein neoliberales Herrensubjekt mit taktischen skills aufzumunitionieren. Eine nochmals ganz andere Perspektive nehmen die HerausgeberInnenkollektive der Buchreihe metroZones ein.

Sie fragen aus einer solidarischen Position und einem linken Interesse heraus nach den Alltagspraktiken in den Slums, und interessieren sich ohne Romantisierung für die Selbstorganisierungen und Ansätzen solidarischer Ökonomien, die sich im informellen Sektor ausbilden. Auch der erwähnte Mike Davis, Doyen linker Stadtgeschichtsforschung, widmet sich dem «Planet of Slums». Und jüngst ist von autonomer Seite erneut das Interesse an diesem Terrain gesellschaftlicher Auseinandersetzung formuliert worden.

Detlef Hartmann und Gerald Geppert schreiben in ihrem Buch «Cluster» über die globalen Ungleichzeitigkeit in der kapitalistischen Wissensgesellschaft: «Möglicherweise findet ein ‹proletarischer Gebrauch› der neuen Technologien eher nicht in den Metropolen statt, sondern in der Peripherie und den Slums.»

Sie fahren fort: «Wenn es Hoffnung auf die Emanzipation von Subjekten gibt, dann könnte diese vielleicht auch auf die Ungleichzeitigkeit von peripheren Gesellschaftsformationen und postmodernen Informationstechnologien gründen.» Man kann gespannt sein auf die Diskussionen mit SlumbewohnerInnen-Initiativen, die sich die Autoren zukünftig vorgenommen haben.

Man müsste viel genauer auf die letzten drei Beispiele eingehen, die ein (je unterschiedliches) linkes Selbstverständnis vertreten, als hier möglich ist. Auf die Gefahr hin, Inkommensurables zusammenzuwerfen, gehts mir um ein Panorama. Ein solches lässt sich wohl am besten abschliessen mit der Vergegenwärtigung einer lokalen Aktion.

In den Sommern 2005 und 2006 haben in Zürich kulturell orientierte Teile der politischen Widerstandsbewegung nicht länger Strassen reclaimed, sondern ein Wochenende lang ein Hüttendorf gebaut, das in der ersten Ausgabe «Shantytown», in der zweiten «Danslieue» genannt wurde.

Besetzt wurde zunächst in unmittelbarer Nähe zur Börse, zum zweiten Mal in Nachbarschaft der Nationalbank und der grossen Versicherungen Swiss Re und Zurich.

Die Wahl der Orte war sehr wichtig, und viel an Sprengpotenzial der Aktionen wird auch in Zukunft davon abhängen. Doch die Wahl der Namen – «Shantytown», «Danslieue» – ist hier noch viel aufschlussreicher. Das Hüttendorf knüpft an ältere Formen aus der Gegenkultur an – auch in ihrer Mischung aus Pfadfinderei und Stelldichein von tout le monde –, an die Wagenburgen der 1980er, an Zaffaraya in Bern und das Chaotikon in Zürich.

Man kann mit guten Gründen von einem romantisch verklärenden Blick auf die Verhältnisse sprechen, wenn ein solches Hüttendorf auf einmal mit Slums in Beziehung gesetzt wird.

Man kann aber auch, und ich denke, das führt in unsrem Zusammenhang weiter, von einer Faszination für Grenzräume sprechen, wie sie in der metropolitanen Beschäftigung mit den Slums zum Ausdruck kommt. Festzustellen, dass «das Slum» sozusagen im Kollektivsingular in den Status einer Heterotopie gehievt wird, heisst nicht automatisch, in jedem Fall Naivität zu wittern (und auch nicht, die soziale Realität der Slums selbst zu verklären). Heterotopien sind laut Michel Foucault Gegen-Orte, realisierte Utopien einer Gesellschaft.

Es handelt sich um separierte und mit einem System von Zulassung und Schliessung versehene Räume, in denen sich die übrigen Räume einer Gesellschaft spiegeln, überlappen, verkehren oder bekämpfen. Heterotopien sind gleichzeitig imaginär und real, sie sind der andere Schauplatz, und für Foucault stellte die Kolonie eine wichtige Heterotopie des Nordens dar. Heute scheint das Slum die Kolonie abgelöst zu haben.

Bedeutet die Vision eines «Planeten der Slums» nicht die Vorstellung einer Fragmentierung, wie sie im informellen Sektor zum Ausdruck kommt, einerseits, und eine Uniformierung der Megastädte, die untereinander mehr gemein haben als mit ihrem Umland, auf der anderen Seite?

Diese Gleichzeitigkeit von Differenz und Vielfalt gegenüber einer Tendenz zur Homogenisierung ist ein Charakteristikum, wie «Globalisierung» überhaupt gedacht wird. Wenn «Globalisierung» aber ein Euphemismus für Imperialismus ist, stellt sich die Frage, was zwei verschiedene ältere Konzeptionen des Imperialismus dazu betragen können, diese zwei Seiten von Entgrenzung, Fragmentierung und Homogenisierung, genauer zu fassen. Imperialismustheorien und ihre Achsen der Alterität. Für unsere Zwecke kann zwischen zwei marxistischen Konzeptionen des Imperialismus unterschieden werden. Ich greife sie auf, nicht weil sie «Globalisierung» passgenau beschreiben würden, sondern weil es eben Modelle sind: aus vergangenen Kämpfen gebildete Begriffe, deren diskriminierende Qualität Abstandsmessungen zur aktuellen Situation erst möglich macht.

Die ältere Vorstellung, die um 1900 entstand, und die etwa von Lenin stark gemacht wurde, sah das Hauptmoment in der Konkurrenz zwischen kapitalistischen Grossmächten selbst.

Das «Great Game», wie die Imperialherren ihre genozidalen Strategien tatsächlich selbst nannten, setzte einen kolonialen Schauplatz, doch die «Spieler» beschränkten sich auf die europäischen und US-amerikanischen Kapitalfraktionen. Lenin entwickelte seinen Imperialismusbegriff vor dem Hintergrund, dass die Aufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten abgeschlossen war. Die kapitalistische Expansion war insofern an eine Grenze gestossen, als dass eine Profiterweiterung einer Macht nur noch direkt auf Kosten einer anderen möglich war.

Indem diese Konzeption den Imperialismus aus Entwicklungen im kapitalistischen Zentrum erklärte, wurde hier – vor Lenin auch von Hobson oder Rudolf Hilferding – auf die damals aktuellsten Entwicklungen im kapitalistischen Zentrum selbst fokussiert, vor allem auf die Tendenz zur Monopolbildung und auf die Bedeutung des Finanzkapitals.
Slums in Caracas, Venezuela.

Bild: Favela Groove - Belo Horizonte, MG. Brasil. / Demerson Barcelos (CC BY-SA 4.0)

Rosa Luxemburgs Konzeption (um die es weiter unten gehen wird) nahm eine spezielle Position in den marxistischen Imperialismustheorien ein; sie bildet eine Brücke zu einer zweiten Vorstellung von Imperialismus, die hier kurz erwähnt werden soll. Diese entwickelte sich aus den Unabhängigkeitsbewegungen im Trikont nach 1945 und erlangte ihren Einfluss in den 1960er und 1970er Jahren. Hier wurde das Hauptmoment in einer Widerspruchsfront zwischen dem imperialen Block und der «Dritten Welt» gesehen.

Nicht mehr die Rivalität zwischen imperialistischen Nationalstaaten, sondern die Kämpfe der Peripherie gegen das kapitalistische Zentrum oder des Trikonts gegen die Metropole, bilden die Achse des Konflikts. So strukturierten Autoren wie Frantz Fanon oder Samir Amin den Imperialismusbegriff massiv um, und verorteten dessen Ursprung in der kolonialen Ausbeutung durch den frühneuzeitlichen Welthandel. So wurde eine konflikthafte Linie von Columbus' Landnahme oder der East India Company hin zu den antikolonialen Befreiungskämpfen nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen.

Erweiterte diese Verschiebung die Analyse, so pluralisierte sie auch die Perspektive: mit Macht artikulierten sich subalterne Stimmen, die nun – im Kontext der Befreiungskämpfe – nicht mehr marginal genannt werden konnten.

Fredric Jameson spricht hier von zwei verschiedenen «Achsen der Alterität». Hatte die ältere Konzeption mit ihrer Betonung der innerimperialistischen Widersprüche einen im Innern antagonistischen Kern gesetzt, so wurde diese innerliche Dezentrierung in der zweiten Konzeption nach aussen gekehrt, indem nun eine Antipode dem herausgeforderten Zentrum entgegen trat.

Postkoloniale Ansätze schliesslich haben daran gearbeitet, dieses Gegensatzpaar selbst instabil zu machen und haben im Weltmassstab eine «Provinzialisierung Europas» betrieben.

Denn überhaupt bedeutet «Globalisierung» das Entstehen neuer Polaritäten. Insofern lässt sich, wie gesagt, für die «Globalisierung» keine Identität mit einer der beiden hier nachgezeichneten Imperialismus-Konzeptionen behaupten.

Doch bieten sie zwei unterschiedliche analytische Linsen, die sich widersprüchlich überlagern lassen. Sind nicht die Vorherrschaft des Finanzkapitals und die Integration regionaler Märkte unter dem Diktat von Monopolisten ein Moment der «Globalisierung», die Vervielfältigung von Kommunikation und Äusserungsformen ein anderes? Und finden diese gegenläufigen Prozesse aus der Sphäre der Wirtschaft nicht eine Entsprechung in der Sphäre der Kultur?

Dies angenommen, würde sich eine zunehmende Simulakrisierung mit dem Spekulations-Spektakel des Finanzkapitals (selbst ein von Grund auf kulturelles rendering wirtschaftlicher Praktiken) einerseits in Bezug setzen lassen, und zu einem kontrastreichen Auftritt subalterner Positionen andererseits in einen Gegensatz stellen. Ersteres lässt etwa die Rhetorik des «Only Connect» (natürlich der Slogan einer Mobiltelefonwerbung) erahnen. Hier schafft das Insistieren auf Form eine gleissende Ortlosigkeit, die sich mit Finanzialisierung assoziieren lässt. «Money makes me numb», diktiert M.I.A. dazu.

Aber umgekehrt könnte man, wenn M.I.A. mit den fiktiven Flaggen auf ihrem Debütcover und ihrem Verkünden einer «third world democracy» von einem Ausdruck eben dieser zweiten Imperialismus-Konzeption sprechen, jener der «Verdammten dieser Erde».

Die mitgehypte Geschichte von M.I.A.s Tamil-Tiger-Vater könnte hier noch etwas anderes bedeuten als der zynische Winkelzug, auf den Radical Chic rasch reduziert wird. Radical chic hat zur Kehrseite eben auch ein konkretes Aufbegehren und vollführt eine Wiederkunft jener propagandistisch enorm wirksamen ästhetischen Mobilisierungen, die den Antiimperialismus auszeichneten: Black Panthers und Heldinnen «gegen das koloniale Joch» – lauter «strategische Essenzialismen», wie Spivak dazu sagt –, die Sängerin als ikonenhafte, AK-47-tragende Leila Khaled.

Es ist eine Wiederkunft, die daran erinnert, dass – ohne damit den konkreten Kampf- und Solidaritätszusammenhang zu schmälern – die «Dritte Welt» für die hiesige Linke eben auch eine heterotopische Figur war (worauf fürs schweizerische Beispiel die Historikerin Nicole Peter unlängst aufmerksam gemacht hat).

Akkumulation durch Enteignung

Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie schaltet Ungleichzeitigkeiten parallel, wenn sie das Nebeneinander von kapitalistischem Sektor und nichtkapitalistischem Milieu erklärt.

Dass direkte Gewalt und ein kühler, formell freier Sachzwang des Arbeitsmarkts sich gegenseitig bedingen, hatte vor Luxemburg bereits Marx formuliert (ergänzt wird diese «äussere» Dialektik bei ihm mit jener inneren Dialektik, nach der die «Freiheit» am Fabriktor aufhört, und der gleiche Tausch Lohn vs. Arbeitskraft durch das Abpressen des Mehrprodukts immer schon ein ungleicher Tausch ist). «So genannte ursprüngliche Akkumulation» bezeichnet bei ihm den geschichtlichen Prozess, in dessen Verlauf die ProduzentInnen von ihren Produktionsmitteln getrennt wurden und die Kapitalisten erst in den Besitz ihrer Kapitalien gekommen sind.
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Bild: Favela Nova Friburgo. / Nate Cull (CC BY-SA 2.0)

Die Menge der Armen wurde ihrer Handlungsspielräume beraubt, so dass sie ihre Arbeitskraft verkaufen musste. Gewalt trieb die Transition von der Leibeigenschaft zur Lohnarbeit voran. Die Einhegung von Gemeindeland im England seit dem 16. Jahrhundert war Marx' grosses Beispiel: die Privatisierung der commons zwang die ländliche Bevölkerung zum Verkauf ihrer Arbeitskraft. Erst die nackte Gewalt dieses Raubprozesses machte die strukturelle Gewalt des «freien» Lohnarbeitsvertrags möglich.


Luxemburg nun hat festgestellt, dass sich die Schaffung solcher Gewaltverhältnisse nicht auf eine Frühphase des Kapitalismus beschränken, sondern sich fortlaufend wiederholen. In ihrem Buch «Die Akkumulation des Kapitals» von 1912 hat sie behauptet, dass kapitalistische Verhältnisse, also die «Freiheit» der ArbeiterIn mit Vertragsfreiheit und ungebundener Arbeitskraft sowie wissenschaftliche Organisation der Arbeit – dass diese Verhältnisse vom Kapitalismus selbst gekontert werden mit Gewaltverhältnissen, die auf direkter Unterdrückung beruhen und mit Ausbeutung, die auf (auch formell) ungleichem Tausch fusst. Anders gesagt: Kapitalismus schafft pausenlos sein «Anderes».

Der offensichtlichste gesellschaftliche Ort, an dem dies geschieht, ist die unbezahlte Hausarbeit, die von Frauen geleistet wird. Diese Perspektive, die allerdings Luxemburg nicht verfolgt hat, haben Feministinnen wie Gisela Bock und Barbara Duden, Maria Mies und Nancy Hartsock aufgegriffen.

Für Luxemburg vollzieht sich der doppelte Prozess von Mehrwertproduktion und Beraubung in der Dualität zwischen kapitalistischem Sektor und nichtkapitalistischem Milieu. Sie schreibt vom «Schauplatz der Weltbühne», auf dem «Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung» offen zu Tage treten. Die Dualität hilft mit, die Überakkumulationskrisen des Kapitalismus zu lösen, weil sich dem Kapital erst durch diese Raubzüge wieder neue profitable Investitionsmöglichkeiten eröffnen.

Hier kommen zwei Punkte ins Spiel, die oben angesprochen wurden: die informelle Ökonomie und die Slums. Schematisch gesprochen, bedeutet Informalisierung, den Preis der Ware Arbeitskraft unter ihre Reproduktionskosten zu drücken, so dass sich eine ZuzügerIn in der Stadt zwischen Essen und Wohnen entscheiden muss, und die Slums wachsen. Natürlich kann die soziale Wirklichkeit der Slums nicht mit einem solchen Schematismus allein erklärt werden, aber auf das Modell zu verzichten, würde es verbauen, eine analytische Verbindungen zwischen den Verhältnissen hier und dort zu schaffen. Eine solche Vergegenwärtigung unternimmt etwa Res Strehle, der 1991 Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie diskutierte, und ihr Verhältnis zwischen kapitalistischem Sektor und Milieu aufnahm.

Der Doppelsinn des Ausdrucks «Milieu» bringt, so Strehle, die Sache auf den Punkt, handle es sich auch beim halblegalen Prostitutionsgewerbe um Verhältnisse, die auf direktem Zwang beruhen, Gewaltverhältnisse, die gleichzeitig marginalisiert sind und im Zentrum stehen sowie informell ablaufen, d.h. Verhältnisse, in denen der Staat, wenn er interveniert, hauptsächlich als Repressionsapparat auftritt.

Die Informalisierung von Wirtschaftszweigen ist also kein archaisches Überbleibsel, sondern ein ständig neu geschaffenes (oder umgekehrt auch aufgehobenes) Projekt kapitalistischer Ausbeutung. David Harvey, der gleichfalls Luxemburgs Idee aufgreift, schreibt von «accumulation by dispossession», von Akkumulation durch Enteignung oder Beraubung.

Sie besteht darin, die Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter zu sichern, indem Vermögenswerte zu sehr geringen Kosten freigesetzt werden. Diese kann das Kapital direkt in Profit verwandeln. Das Herabdrücken des Lohns unter das gesellschaftliche Niveau des Lebenserhalts wurde bereits erwähnt. Seine Ergänzung findet dieser Vorgang in Sweat Shops, wo mit wenig technischem Aufwand, aber kasernenmässig organisiert, die Arbeitskraft so intensiv wie möglich ausgebeutet wird. Ein nochmals anderer Schritt kann es sein, die Arbeitskraft gar nicht erst in ein Lohnverhältnis treten zu lassen und mit Subcontracting aufs Level von Mikrounternehmen hinunter die Marktrisiken und Reproduktionskosten abzuwälzen. In beiden Fällen heisst freier Markt, freigesetzt zu sein von Rechten und Schutzbestimmungen.

Akkumulation durch Enteignung hat viele Erscheinungen. Allein das Gesamtbild des informellen Sektors zersplittert in Myriaden von Formen, die von der absoluten Freisetzung, wie in Kleinsthandel oder Mischelökonomien, bis zur Zwangsarbeit reichen. Und klarer Weise beschränkt sich Akkumulation durch Enteignung nicht auf den Trikont. Privatisierung und Liberalisierung bezeichnen auch in den Metropolen die Offensiven, mit denen Vermögenswerte fürs Kapital freigesetzt werden.

Sie findet sich aber auch in der Finanzialisierung seit der Krise 1973, denn der Knotenpunkt zwischen Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter und Akkumulation durch Enteignung bildet das Finanzkapital. Nicht zuletzt kennt die Musikindustrie Formen der Akkumulation durch Enteignung, etwa in der Verwertung von Szenen und Kenntnissen. Und schliesslich bilden auch die Renaissance des informellen Sektors in der «Ersten Welt», unter dem Stichwort «Prekarisierung», ein Moment von Akkumulation durch Enteignung.

Unähnlichkeit

Die Vielfalt des informellen Sektors findet eine entstellte Entsprechung im Feiern der heterogenen Diversität der kulturellen Ausdrucksformen, unter der das Label «Globalisierung» segelt. Diese Behauptung will weniger den AnhängerInnen einer solchen Diversität Zynismus oder Naivität vorwerfen, als vielmehr eine Limitierung der Untersuchungsweise, oder besser: eine mangelnde Verbindung von kulturellen Layers mit ökonomischen.

Denn eine solche Verlinkung entspricht immerhin einem Moment, das wiederholt für die Postmoderne diagnostiziert wird: eine Osmose wirtschaftlicher und kultureller Sphären, eine Kulturalisierung der Ökonomie und eine Ökonomisierung kultureller Operationen. Analyse würde dann die Re-Differenzierung dieser graduellen Entdifferenzierung bedeuten, um damit die spezifische Ausprägung dieser Verbindung oder die Historizität ihrer Form zu rekonstruieren.

Erst wenn auf diesem Punkt insistiert wird, treten die Kämpfe und Aneignungsprozesse hervor, die eine bestimmte kulturelle Konfiguration haben entstehen lassen.

Das führt zur aktuellen Hipness der Post World Music zurück. Warum jetzt der Favela Chic? Weil er Ausdruck und Bewältigung verschiedener Momente imperialistischer Ausbeutung ist. Ein Moment darin könnte in der ideologischen Abrichtung liegen.

Die Militanz entspricht dann einem «Neoliberalismus von unten», der ein sozialdemokratisches Spiessertum herausfordert. Ergänzt würde diese Offensive durch eine propagierte Coolness der Ungleichheit. Vorgeführt werden in dieser Szenerie exotische Leute, die – man windet sich vor Peinlichkeit, das hinzuschreiben – ähm, «arm, aber sexy» sind. Weil Akkumulation durch Enteignung hier wie dort stattfindet, wenn auch auf sehr verschiedene Weise, wird die Gewöhnung an eine neue Pauperisierung kulturell aufgeladen. Das wäre dann der Radical Chic, eingereiht in ein hegemoniales Projekt.

Jeder Sellout-Vorwurf wäre falsch, wie Katja Diefenbach schreibt, «weil er die Relativität des gesellschaftlichen Felds aufheben, und die Illusion reiner, uneinholbarer, unumwertbarer, in diesem Sinne ‹richtiger› Praktiken wieder aufrichten würde».

Der letzte Punkt deutet aber auch an, dass der Affirmationskontext nur ein Moment ist. Es gibt in der Relativität der gesellschaftlichen Felder, oder: der Beweglichkeit der Kräfteverhältnisse, eben auch ein anderes, nämlich die Umwertung und Aneignung von unten.

Entscheidend sind dabei praktische Fragen, etwa in der Kulturarbeit: was für eine Öffentlichkeit wird adressiert, welche Pipelines werden dazu bedient, was wird darin eingespeist und was bleibt aussen vor, wird dabei nach kollektiven Äusserungsformen gesucht oder ein neu aufgelegtes Checkertum betrieben?

Zu diesen reichlich konsensualen, aber praktisch trickreichen Fragen würde ich hinzufügen: wird eine Organisierung probiert, die die isolierten Kämpfe in einem sich entwickelnden Klassenbegriff zu verbinden sucht? Und das wäre dann die andere Seite: weil Akkumulation durch Enteignung der Brückenbegriff für ein Prozess ist, der hier wie dort sich vollzieht, kann die Militanz des Favela Chic eben auch widerständigen Aneignungen offen stehen.

Wir können es nur in beiden Richtungen haben: weil es keine «authentische» Erfahrung gibt, wird das Interesse durch bürgerliche Medienhypes und Verwertungsbedingungen mitkonstituiert. Doch wie die Aneignungsprozesse ablaufen, ob und wie ein re-hijacking stattfindet, hängt von der Praxis ab. Dabei kann die Ungleichzeitigkeit, das Wiedererkennen in der Verschobenheit, wie sie anscheinend für manche Linke in der Beschäftigung mit den Slums geschieht, vielleicht eine Möglichkeit bieten für eine Gestaltung an der eigenen Unähnlichkeit mit den Verhältnissen.

Ein sehr vorläufiger, kurzatmiger Versuch, auf analytischer Ebene an Unähnlichkeiten zu mitzuarbeiten, bildet der Text hier, der mit zwei ungleichzeitigen Konfigurationen der Imperialismus-Analyse und dem Begriff der Akkumulation durch Enteignung Verbindungspotenziale und Verfremdungsmöglichkeiten für kulturelle Konfigurationen unter dem Zeichen «Globalisierung» suchte.

Subjektivierung ist ein aktiver Prozess. Leute werden in vorgegebene Strukturen eingeformt, aber sie schaffen ihre eigene Erfahrung dabei, richten sich auf ihre Weise in der Situation ein – und weigern sich eben immer wieder, mit ihren Umständen ähnlich zu werden. Popmusik weiss viel davon. Denn schliesslich bedeutet Popmusik nicht nur das Zurichten, sondern auch das symbolische Einstudieren von Freiheiten.

Mischa Suter

Dieser Text entstand anlässlich des Podiums «Pop und Überleben» im Juli 2007 in der Shedhalle in Zürich, organisiert von «Elend & Vergeltung» und kommerz.ch.